14.10.2024
Prozess um tödlichen Zwischenfall am Grenzübergang Bahnhof Friedrichstraße erwartet Urteil

Am DDR-Grenzübergang Bahnhof Friedrichstraße in Ost-Berlin ereignete sich am 29. März 1974 ein tödlicher Zwischenfall. Ein Mann wurde am hellichten Tag hinterrücks erschossen. Wie die Zeit am 14. Oktober 2024 berichtete, wird nun, rund 50 Jahre nach der Tat, das Urteil im Prozess gegen einen 80-jährigen Ex-Stasi-Mitarbeiter erwartet.

Die Staatsanwaltschaft Berlin wirft dem Angeklagten heimtückischen Mord vor und fordert zwölf Jahre Haft. Laut Staatsanwältin Henrike Hillmann steht fest, dass der damalige Oberleutnant den 38-jährigen Polen Czesław Kukuczka im Auftrag der Stasi aus kurzer Distanz erschossen hat.

Die Verteidigung hingegen plädiert auf Freispruch. Es sei nicht zweifelsfrei erwiesen, dass ihr Mandant der Schütze gewesen sei. Der 80-Jährige schwieg zu den Vorwürfen. Seine Anwältin erklärte zu Prozessbeginn, er bestreite diese.

Dem Angeklagten wird vorgeworfen, Teil einer Operativgruppe des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) gewesen zu sein und den Auftrag zur „Unschädlichmachung“ Kukuczkas erhalten zu haben. Zuvor soll dieser versucht haben, seine Ausreise nach West-Berlin mit einer Bombendrohung in der polnischen Botschaft zu erzwingen.

Das MfS soll Kukuczka mit einer fingierten Ausreise in eine Falle gelockt haben. Er erhielt Dokumente und wurde von Stasi-Mitarbeitern zum Bahnhof Friedrichstraße begleitet. Dort, nachdem er den letzten Kontrollpunkt passiert hatte, fiel der Schuss.

Zeugen des Vorfalls wurden zufällig westdeutsche Schülerinnen einer 10. Klasse, die Ost-Berlin besucht hatten und zurück in den Westteil der Stadt wollten. Vor Gericht schilderten sie eindrücklich die Ereignisse und ihre Fassungslosigkeit.

Eine 65-Jährige erinnerte sich: „Hinter mir stand ein Mann mit einer Reisetasche.“ Dieser Mann sei vorgezogen worden und zielstrebig in Richtung Unterführung gegangen, nachdem er seinen Pass zurückbekommen hatte. Plötzlich sei ein Mann in einem langen Mantel und mit Sonnenbrille von hinten vorgetreten – und der Schuss sei gefallen. Der Mann mit der Reisetasche sei zusammengesunken. „Das sehe ich noch bildlich vor mir“, so die Zeugin. Die Türen seien sofort geschlossen worden. „Wir hatten unheimliche Angst.“ Zurück im Westen informierte der Lehrer die Polizei.

Ein Berliner Kommissar schilderte im Prozess, dass es damals eine Anfrage an die Justiz im Osten gegeben habe, die jedoch erfolglos blieb. Über viele Jahre hinweg gab es keine Fortschritte in den Ermittlungen.

Erst 2016 lieferte das Stasi-Unterlagen-Archiv einen entscheidenden Hinweis zur Identität des Schützen: Ein von Erich Mielke, dem damaligen Staatssicherheits-Minister, unterzeichneter Befehl nannte zwölf MfS-Mitarbeiter, die im Zusammenhang mit der Tötung ausgezeichnet werden sollten. Darunter befand sich auch der Angeklagte, der laut Dokument mit dem „Kampforden in Bronze“ ausgezeichnet wurde.

Die Staatsanwaltschaft ging zunächst von Totschlag und nicht von Mord aus und stellte das Verfahren 2017 ein, da die Tat in diesem Fall verjährt gewesen wäre. Inzwischen sieht die Staatsanwaltschaft jedoch das Mordmerkmal der Heimtücke als erfüllt an. Hintergrund für die Neubewertung war ein europäischer Haftbefehl gegen den Angeklagten, der nach beharrlichen Nachforschungen der polnischen Seite erlassen wurde.

Die Verteidigerin des Ex-Stasi-Mitarbeiters, Andrea Liebscher, mahnte in ihrem Plädoyer, dass Recherchen von Historikern nicht für eine rechtliche Bewertung ausreichen würden. „Historiker sprechen nicht Recht im Namen des Volkes“, betonte sie. „Ich denke, dass man alles, was nach 50 Jahren noch herauszufinden war, auch herausgefunden hat.“ Es sei nicht ausreichend sichergestellt, dass ihr Mandant der Schütze gewesen sei. Zudem sei sie überzeugt, dass es sich um Totschlag und nicht um Mord handele. Das Opfer habe angesichts seiner zuvor inszenierten Bombendrohung nicht arglos sein können.

Der Vorsitzende Richter Bernd Miczajka hatte zu Prozessbeginn die Schwierigkeit des Falls, rund 50 Jahre nach der Tat, deutlich gemacht: „Vieles wird auf der Bewertung von Urkunden beruhen.“ Das Gericht müsse sich ein Bild davon machen, wie verlässlich diese seien. Es ging vor allem um den Vorschlag zur Auszeichnung mit dem „Kampforden“ nach der Tat.

Die Kammer forderte in den vergangenen Monaten mehrfach Skizzen oder Schriftstücke vom Stasi-Unterlagen-Archiv an. Eine Sachverständige für Geschichtswissenschaften wurde als Zeugin gehört. Doch es blieben viele Fragen offen, auch weil mögliche Zeugen nicht mehr befragt werden konnten, da sie inzwischen verstorben sind.

Aus Sicht der Verteidigung hat sich das Gericht jedoch nach Kräften bemüht, den Fall mit den zur Verfügung stehenden Mitteln aufzuklären. Auch die Angehörigen des Opfers, die im Verfahren als Nebenkläger auftreten, zeigten sich zufrieden. Es sei ihren Mandanten nie um eine bestimmte Strafe oder Rache gegangen, betonten die Anwälte der drei Kinder – eine Tochter und zwei Söhne – sowie einer Schwester des getöteten Polen. „Man wollte einfach nur ein Urteil“, so Anwalt Rajmund Niwinski. „Die Nebenkläger sind dem Gericht, dem deutschen Staat dankbar, dass es dieses Verfahren gab.“

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