October 6, 2024
Tunesien vor der Präsidentenwahl: Ein Land zwischen Hoffnung und Machtkonzentration

Präsidentenwahl in Tunesien: Kaïs Saïed ist schon als Sieger ausgemacht

Von Hans-Christian Rößler, Tunis 06.10.2024, 19:03 Uhr Lesezeit: 5 Min.

Tunesien galt als Hoffnungsland – doch von der Opposition ist kaum erwas übrig. Präsident Kaïs Saïed zementiert hingegen seine Macht und geht bei der Wahl am Sonntag keine Risiken ein.

Wer in diesen Tagen nach Tunesien reist, merkt nicht, dass am Sonntag Präsidentenwahl war. Man muss die wenigen Wahlplakate an den Häuserwänden von Tunis suchen. Meistens hängt dort nur ein Porträt des streng blickenden Präsidenten Kaïs Saïed – von seinen beiden Herausforderern ist keine Spur. Am Eingang eines Wahllokals in einer Schule im Zentrum von Tunis stehen mehr bewaffnete Soldaten herum als dort Wähler vorbeischauen. Für viele Tunesier war die Wahl ohnehin längst gelaufen: An einer zweiten Amtszeit für den 66 Jahre alten Saïed zweifelt kaum jemand. Die Wahl wirkt eher wie eine lästige protokollarische Pflicht in dem einstigen Hoffnungsland. In den vergangenen Wochen gab es weder TV-Duelle noch große Kundgebungen.

Saïed, ein ehemaliger Jura-Professor, der sich als politischer Außenseiter inszeniert, hat in den vergangenen Jahren systematisch die Demokratie in Tunesien ausgehöhlt. Im Juli 2021 entließ er die Regierung und fror das Parlament ein. Im Februar 2022 löste er es schließlich ganz auf. Seitdem regiert er per Dekret. Im vergangenen Sommer trieb er eine neue Verfassung durch, die ihm weitreichende Machtbefugnisse zusichert. Die neue Verfassung wurde in einem Referendum mit einer Wahlbeteiligung von nur 30,5 Prozent angenommen.

Die Opposition wirft Saïed vor, einen Staatsstreich vollzogen zu haben. Sie rief zum Boykott der Präsidentenwahl auf. Die meisten Oppositionspolitiker wurden im Vorfeld der Wahl verhaftet oder durften nicht kandidieren. Unter ihnen sind auch prominente Politiker wie der ehemalige Parlamentspräsident Rached Ghannouchi und der ehemalige Präsident Moncef Marzouki.

Die Europäische Union und die Vereinigten Staaten haben die Entwicklung in Tunesien mit Sorge beobachtet. Sie forderten Saïed auf, die Demokratie wiederherzustellen und freie und faire Wahlen abzuhalten. Die EU hat ihre Finanzhilfen für Tunesien eingefroren. Doch Saïed zeigt sich unbeeindruckt von der Kritik aus dem Westen. Er wirft der EU und den USA vor, sich in die inneren Angelegenheiten Tunesiens einzumischen.

Saïeds Anhänger sehen in ihm einen starken Mann, der Tunesien aus der Krise führen kann. Das Land leidet unter einer schweren Wirtschaftskrise. Die Inflation ist hoch, die Arbeitslosigkeit ist hoch, und die Staatsverschuldung ist hoch. Saïed hat versprochen, die Korruption zu bekämpfen und die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen. Doch bisher ist es ihm nicht gelungen, die Lebensbedingungen der Menschen in Tunesien zu verbessern.

Die Wahl am Sonntag dürfte Saïeds Macht weiter festigen. Doch es ist fraglich, ob er die tiefen Gräben in der tunesischen Gesellschaft überwinden kann. Die Gefahr ist groß, dass Tunesien in eine neue Phase der Instabilität und der Gewalt abgleitet.

Quelle: F.A.Z.

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