17.10.2024
Unsichtbare Gefahr: Kampfmittelverseuchung in der Ukraine

Der Krieg in der Ukraine hat nicht nur unermessliches Leid über die Menschen gebracht, sondern auch eine unsichtbare Gefahr hinterlassen: Munitionsreste und Minen verseuchen weite Teile des Landes und stellen eine massive Bedrohung für die Zivilbevölkerung dar. Wie die Deutsche Presse-Agentur (dpa) berichtet, ist die humanitäre Minenräumung zu einer der drängendsten Aufgaben im Rahmen des Wiederaufbaus geworden.

Die Gefahr ist allgegenwärtig: Landminen, Streumunition, nicht explodierte Granaten und Raketen sowie Trümmerteile von Kampfdrohnen – all diese Hinterlassenschaften des Krieges können noch Jahre später tödlich sein. Ein unachtsamer Schritt, eine Berührung genügen, um die Explosion auszulösen. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Seit Beginn des russischen Einmarsches im Februar 2022 wurden in der Ukraine über 1.000 Menschen durch Minen und Blindgänger verletzt oder getötet. Allein in diesem Jahr starben 30 Menschen durch diese unsichtbare Gefahr, wie die dpa unter Berufung auf Regierungsangaben berichtet.

Die Vereinten Nationen bezeichnen die Ukraine als das am stärksten verminte Land der Welt. Die betroffene Fläche ist gigantisch: Schätzungen zufolge ist ein Gebiet doppelt so groß wie Bayern potenziell mit Munitionsresten kontaminiert. Hinzu kommen verminte Gebiete im Schwarzen Meer. Das UN-Entwicklungsprogramm UNDP geht zwar davon aus, dass nur etwa zehn Prozent der Fläche tatsächlich Munition enthalten, doch die gesamte Fläche muss aufwendig abgesucht werden. „Diese Risiken beeinflussen das Leben von über sechs Millionen Ukrainern negativ“, warnt Ruslan Berehulja, Leiter der nationalen ukrainischen Minenräumbehörde, gegenüber der dpa.

Die Situation in der Ukraine unterscheidet sich von anderen Ländern, die mit Minen kontaminiert sind, in mehreren Punkten. Wie Gary Toombs von der Hilfsorganisation Handicap International gegenüber der dpa erläutert, hat Russland die Minen in einer Dichte verlegt, die ihresgleichen sucht. Erschwerend kommt hinzu, dass neuartige Technologien zum Einsatz kommen. So wurden Minen eingesetzt, die durch Veränderungen im Magnetfeld oder Erschütterungen im Boden aktiviert werden, was die Räumung zusätzlich erschwert.

Toombs beschreibt die heimtückischen Mechanismen: „Es gibt Geschosse, die über dem Boden Spulen von Spann- und Stolperdrähten herausschleudern, die dann ein Spinnennetz bilden.“ Gerät jemand in dieses Netz, wird die Explosion ausgelöst. Andere Spanndrähte sind mit einer Art Angelhaken an Bäumen befestigt, die sich beim Vorbeigehen in der Kleidung verfangen und so den Zünder aktivieren.

Die Folgen für die ukrainische Bevölkerung sind verheerend. Landwirte können ihre Felder nicht bestellen, beschädigte Kraftwerke können nicht repariert werden und viele Menschen können nicht in ihre Häuser zurückkehren. Die Minen legen die Wirtschaft lahm und behindern den Wiederaufbau. An der Front ist das Militär für die Minenräumung zuständig, während die Minenräumbehörde für die Räumung wichtiger Infrastruktur verantwortlich ist. In Dörfern und auf Feldern findet die sogenannte humanitäre Minenräumung statt.

Markus Schindler, ein deutscher Minenräumer, der für die Schweizer Stiftung für Minenräumung (FSD) arbeitet, beschreibt die mühsame Arbeit: „Vielfach müssen Felder nach einem ersten Einsatz von Maschinen Meter für Meter mit Metalldetektoren abgesucht werden.“ Die FSD konzentriert sich auf die Räumung von Dörfern in ländlichen Gebieten, die von der ukrainischen Armee zurückerobert wurden. Ziel ist es, diese Gebiete wieder bewohnbar zu machen. Die Stiftung beschäftigt Hunderte lokale Minenräumer und die Nachfrage ist groß: „Wir haben mehr Bewerber als Stellen, sehr viele Menschen möchten die Möglichkeit haben, etwas für ihr Land zu tun“, berichtet Schindler.

Die humanitäre Minenräumung ist eine Sisyphusarbeit, die viel Zeit und Ressourcen beansprucht. So benötigten die Minenräumer der FSD mehrere Monate, um zwei Fußballfelder in der Region Charkiw von Munitionsresten zu befreien. Um die Sicherheit der Spieler zu gewährleisten, musste jeder einzelne Splitter entfernt werden. In anderen Gebieten können deutlich größere Flächen innerhalb weniger Wochen geräumt werden. Die FSD plant, die geräumten Fußballfelder in Charkiw bald wieder der Gemeinde zu übergeben. Ein Freundschaftsspiel zwischen der FSD und der Dorfjugend soll die Rückkehr zur Normalität symbolisieren.

Neben der Minenräumung selbst spielt auch die Risikoaufklärung eine wichtige Rolle. Handicap International schult die Bevölkerung im Umgang mit der Gefahr durch Minen und Blindgänger. In Gemeindesälen, Bunkern, Schulen und anderen Orten wird den Menschen beigebracht, wie sie sich in einem minenverseuchten Gebiet sicher bewegen können. Die wichtigste Botschaft: „Wenn Du etwas Verdächtiges siehst, nicht anfassen, sondern Hilfe holen“, so Toombs.

Die ukrainischen Behörden setzen alles daran, die Gefahr durch Minen und Munitionsreste einzudämmen. Nach Angaben des Zivilschutzes sind im Land über 2.100 Minenräumer im Einsatz. Bislang wurden über 1.500 Quadratkilometer Land – eine Fläche größer als Berlin und Hamburg zusammen – untersucht und über 530.000 explosive Gegenstände unschädlich gemacht. Die Kosten für die vollständige Räumung des Landes werden auf über 30 Milliarden Euro geschätzt. Die internationale Gemeinschaft ist gefordert, die Ukraine bei dieser Mammutaufgabe zu unterstützen.

Quellen:

    - https://www.zeit.de/news/2024-10/17/mit-munition-verseuchtes-land-ukraine-braucht-hilfe - https://www.sueddeutsche.de/politik/ukraine-krieg-mit-munition-verseuchtes-land-ukraine-braucht-hilfe-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-241017-930-262529 - https://www.wz.de/politik/ausland/mit-munition-verseuchtes-land-ukraine-braucht-hilfe_bid-120179581 - https://www.gn-online.de/deutschland-und-welt/mit-munition-verseuchtes-land-ukraine-braucht-hilfe-553801.html - https://www.bundesregierung.de/breg-de/schwerpunkte/krieg-in-der-ukraine/lieferungen-ukraine-2054514 - https://germany.representation.ec.europa.eu/13-mythen-uber-den-krieg-russlands-der-ukraine-und-die-wahrheit_destern - https://www.stern.de/politik/ausland/israels-message-im-libanon---niemand-ist-hier-mehr-sicher---video--35147208.html - https://taz.de/Streumunition-fuer-die-Ukraine/!5945844/
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