25.11.2024
Verlagert Verschollen Verblieben Das Schicksal Deutscher Bücher Nach 1945

Kriegsverlust, was heißt das? Deutsche und polnische Bücherschicksale nach 1945

Der Begriff "Kriegsverlust" im Kontext von Büchern umfasst weit mehr als die unmittelbare Zerstörung durch Kampfhandlungen. Wie Jürgen Kaube in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) am 25.11.2024 berichtet, verbergen sich hinter dem schlichten Eintrag „Kriegsverlust“ in Bibliothekskatalogen komplexe Geschichten von Verlagerung, Plünderung und wechselnden Besitzverhältnissen. Millionen Bücher wurden während des Zweiten Weltkriegs aus ihren angestammten Bibliotheken entfernt, viele kehrten nie zurück. Besonders zwischen Deutschland und Polen wirft das Thema bis heute Fragen auf.

Die Berliner Staatsbibliothek verzeichnete 2006 noch 1,7 Millionen Bücher und Handschriften als Kriegsverlust oder möglichen Kriegsverlust, so die FAZ. Viele dieser Verluste entstanden nicht im Bombenhagel des Kriegsendes, sondern durch die systematische Auslagerung von Beständen. Die Staatsbibliothek Unter den Linden, im späteren Ostberlin gelegen, hatte während des Krieges große Teile ihrer Sammlung in den Westen Berlins, nach Marburg, aber auch nach Schlesien und Pommern verlagert. Diese Bücher fielen unterschiedlichen Schicksalen anheim: Zerstörung durch Feuchtigkeit in Bergwerken, Verbrennung durch die SS oder schlichtes Verschwinden bei Transporten.

Die Gebiete Schlesiens und Pommerns wurden nach 1945 polnisch, und mit ihnen die dorthin verlagerten Bücherbestände. Wie die FAZ berichtet, verhandelt man seit 1991 über die Rückgabe dieser Bücher, bislang weitgehend ergebnislos. Der Sammelband "Bücher und ihre Wege. Bibliomigration zwischen Deutschland und Polen seit 1939" (Brill /Schönigh 2024), herausgegeben von Vanessa de Senarclens, beleuchtet die komplexen Wege der Bücher während und nach dem Krieg. Der Band versammelt Beiträge deutscher und polnischer Forscher, die die Zerstörung und Wanderung der Bücher dokumentieren und die schwierige Frage der Besitzverhältnisse nach 1945 thematisieren. Oftmals, so die FAZ, wisse man zwar, wo sich die Bücher befinden, scheue aber die damit verbundenen Fragen.

Nach 1945, so Kaube in der FAZ, tendierten deutsche Bibliothekare dazu, die Buchverluste als singuläre Katastrophe darzustellen. Dabei begann der Verlust von Büchern bereits vor Kriegsbeginn mit den nationalsozialistischen Bücherverboten und setzte sich fort mit der systematischen Plünderung von Bibliotheken in den besetzten Gebieten, insbesondere in Polen. In der DDR wurden nach 1949 Bibliotheksbestände von "faschistischer und militaristischer Literatur" gesäubert. Im Westen Deutschlands kehrten die nach Marburg ausgelagerten Bestände der Staatsbibliothek 1977 nach Berlin zurück. Doch der Verbleib von Hunderttausenden Bänden blieb ungeklärt. Ein Großteil der vermissten Bücher befindet sich in polnischen Bibliotheken, wie beispielsweise die Handschrift des dritten Satzes von Beethovens 8. Sinfonie in der Krakauer Biblioteka Jagiellońska.

Wie der Deutschlandfunk in einem Beitrag vom 14.03.2020 über die Vertreibungen nach 1945 ausführt, wurden die deutschen Ostgebiete östlich von Oder und Neiße bereits im März 1945 unter polnische Verwaltung gestellt. Dies geschah im Kontext der auf der Konferenz von Teheran 1943 skizzierten Nachkriegsordnung. Die Westverschiebung Polens und die damit einhergehenden Vertreibungen führten zu einer Umkehrung des nationalsozialistischen Generalplans Ost, wie der Historiker Timothy Snyder bemerkt. Die polnische Exilregierung hatte bereits 1941 Grenzkorrekturen und die Entfernung der deutschen Bevölkerung gefordert, unter anderem als Kompensation für die Verluste während der Besatzungszeit.

Die unterschiedlichen nationalen Narrative zum Schicksal der Bücher erschweren die Diskussion, so die FAZ. In Polen gelten die Bücher als polnisches Eigentum, als eine Art Kompensation für die eigenen Kriegsverluste. Die Berliner Staatsbibliothek hingegen erhebt weiterhin Anspruch auf alle Bände mit ihren historischen Stempeln. Die Frage nach dem rechtmäßigen Besitz wird dadurch überschattet, dass die Deutschen während der Besatzung Polens systematisch Bibliotheken geplündert haben, wie die FAZ berichtet und auch das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste auf seiner Webseite zu Kriegsverlusten ausführt. Das "Kommando Paulsen" unter Leitung des SS-Mannes Peter Paulsen requirierte während der Besatzung mindestens 160.000 Bücher und schickte sie nach Berlin. Nur wenige davon kehrten nach Polen zurück. Der Warschauer Aufstand und die folgende Zerstörung der Stadt führten zur Vernichtung weiterer Hunderttausender Bücher und Manuskripte.

Die Debatte um die Eigentumsrechte, so die FAZ, vernachlässigt den eigentlichen Sinn von Büchern: gelesen und studiert zu werden. Eine Vernetzung der deutschen und polnischen Bibliothekskataloge und gemeinsame Forschungsprojekte könnten dazu beitragen, die Geschichte der Bücher aufzuarbeiten und sie wieder für die Forschung zugänglich zu machen.

Quellen:
Weitere
Artikel