Die Frage, ob Tiere, insbesondere unsere nächsten Verwandten, die Menschenaffen, in der Lage sind, die Gedanken und Absichten anderer zu verstehen, beschäftigt Wissenschaftler seit langem. Die sogenannte "Theory of Mind" (ToM), die Fähigkeit, anderen mentale Zustände zuzuschreiben, galt lange als rein menschliche Eigenschaft. Neue Forschungsergebnisse, wie sie beispielsweise die FAZ berichtet, deuten jedoch darauf hin, dass auch Bonobos, eine Menschenaffenart, zumindest einige Aspekte der ToM beherrschen könnten.
Ein Experiment der Johns Hopkins University, über das die FAZ am 4. Februar 2025 berichtete, liefert spannende Einblicke in die kognitiven Fähigkeiten von Bonobos. In diesem Experiment wurde den Bonobos ein Hütchenspiel vorgeführt. Ein Versuchsleiter versteckte eine Weintraube unter einem von drei Hütchen. In einigen Durchgängen konnte der Bonobo beobachten, wo die Weintraube versteckt wurde, in anderen nicht. Anschließend fragte der Versuchsleiter den Bonobo: "Wo ist die Traube?".
Die Ergebnisse waren bemerkenswert. Wie die FAZ berichtet, gaben die Bonobos nur dann Hinweise auf das richtige Hütchen, wenn der Versuchsleiter die Weintraube nicht selbst gesehen hatte. Hatte der Versuchsleiter das Versteck mitverfolgt, verzichteten die Bonobos auf Hinweise. Dieses Verhalten legt nahe, dass die Bonobos in der Lage waren, den Wissensstand des Versuchsleiters einzuschätzen und ihr Verhalten entsprechend anzupassen. Ein Bonobo namens Kanzi zeigte sich dabei besonders engagiert und versuchte durch Gesten und Klopfen gegen das Gitter die Aufmerksamkeit des Versuchsleiters auf das richtige Hütchen zu lenken. Dieses Verhalten, wie von der FAZ beschrieben, könnte als ein Beispiel für proaktives Helfen interpretiert werden, basierend auf dem Verständnis des Wissensstandes des anderen.
Die Fähigkeit, den Wissensstand anderer zu erkennen, gilt als eine höhere kognitive Leistung. Wie in einem Artikel von Brüne und Brüne-Cohrs (2006) in "Neuroscience and Biobehavioral Reviews" erläutert wird, ist die ToM ein komplexes Konstrukt, das im Laufe der Evolution entstanden ist und eng mit der Entwicklung des Sozialverhaltens verknüpft ist. Die Forschung an Menschenaffen, wie auch an anderen Tierarten, trägt dazu bei, die evolutionären Wurzeln der ToM zu verstehen. Ein weiterer Artikel von Byom und Mutlu (2013) in "Frontiers in Human Neuroscience" betont die Bedeutung neuer Methoden, um die ToM in interaktiven Szenarien zu untersuchen und so ein umfassenderes Verständnis dieser Fähigkeit zu gewinnen.
Die Interpretation der Ergebnisse des Hütchenspiel-Experiments ist jedoch nicht unumstritten. Kritiker argumentieren, dass das Verhalten der Bonobos auch durch einfachere Lernmechanismen erklärt werden könnte, ohne dass ihnen eine ToM zugeschrieben werden muss. So argumentiert beispielsweise Penn und Povinelli (2007) in "Philosophical Transactions of the Royal Society B", dass es bisher keine eindeutigen Beweise dafür gibt, dass Tiere tatsächlich über eine ToM verfügen, die der des Menschen vergleichbar ist. Weitere Forschung ist notwendig, um die genauen kognitiven Prozesse, die dem Verhalten der Bonobos zugrunde liegen, zu entschlüsseln.
Die Forschung zur ToM bei Bonobos und anderen Menschenaffen steht noch am Anfang, liefert aber bereits faszinierende Einblicke in die kognitiven Fähigkeiten unserer nächsten Verwandten. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die ToM möglicherweise nicht ausschließlich eine menschliche Domäne ist und dass auch Tiere in der Lage sein könnten, die Gedanken und Absichten anderer zu verstehen.
Verwendete Quellen:
https://www.faz.net/aktuell/wissen/leben-gene/verhaltensforschung-affen-koennen-sich-in-menschen-hineinversetzen-110272815.html
https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0149763405001284
https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fnhum.2013.00413/pdf
https://royalsocietypublishing.org/doi/10.1098/rstb.2006.1998