October 1, 2024
Einwanderung und Sicherheit im Fokus von Barniers Regierungsansprache

Die Einwanderungsdebatte prägt Barniers erste Regierungserklärung

Der Mord an der 19-jährigen Studentin Philippine durch einen ausreisepflichtigen Straftäter hat Frankreich erschüttert. Dieses tragische Ereignis wirft ein Schlaglicht auf die Problematik von Gewaltverbrechen und Versäumnissen im Umgang mit straffälligen Ausländern. Vor diesem Hintergrund hielt Frankreichs neuer Premierminister Michel Barnier am Dienstag seine erste Regierungserklärung vor der Nationalversammlung. Wie die F.A.Z. berichtet, stand Barniers Rede ganz im Zeichen der Einwanderungsdebatte.

Zu Beginn seiner Ansprache gedachte der 73-jährige Regierungschef der ermordeten Studentin mit einer Schweigeminute. „Wir denken an sie, wir denken an alle Frauen, die Opfer von Gewalt geworden sind“, sagte Barnier. Anschließend skizzierte er die Leitlinien seiner geplanten Einwanderungspolitik. „Wir wollen unsere Grenzen besser kontrollieren“, so Barnier. Deutschland zeige, dass dies möglich sei. Gleichzeitig betonte er die Bedeutung Europas: „Wir sollten Europa pfleglich behandeln. Wir brauchen es.“ Die europäische Einwanderungspolitik müsse „pragmatischer“ werden und dürfe nicht länger von „ideologischen Grabenkämpfen“ geprägt sein.

Barnier räumte ein, dass sich zehntausende ausreisepflichtige Ausländer auf französischem Staatsgebiet aufhalten. Die derzeitige Situation sei „nicht zufriedenstellend“. Der Premierminister kündigte an, die Zahl der Abschiebungen erhöhen und die gesetzlichen Fristen für Abschiebehaft verlängern zu wollen. Um das Sicherheitsbedürfnis der Franzosen zu stärken, soll zudem die Polizeipräsenz im öffentlichen Raum erhöht werden. Polizisten sollen von Verwaltungsaufgaben entlastet werden, um mehr Zeit für Streifen zu haben.

Barniers Regierungserklärung wurde von den Abgeordneten der Linkspartei LFI mit Störmanövern begleitet. Die Parlamentarier hielten ihre Wahlkarten hoch und versuchten, den Premierminister mit Buhrufen zu übertönen. Barnier ließ sich jedoch nicht beirren und rief zu einer neuen Kompromisskultur auf, „auch wenn dieser Respekt nicht von allen geteilt wird“. Ein Kompromiss sei kein Schimpfwort, betonte er unter dem Geschrei der Linken.

Einen weiteren Schwerpunkt seiner Rede legte Barnier auf die „finanziellen und ökologischen Schulden“ Frankreichs. Neben Sicherheit und Einwanderungskontrolle nannte er drei weitere prioritäre „Baustellen“. Er wolle „mit wenig viel machen“, sagte Barnier in Anlehnung an ein Zitat des französischen Republikgründers Charles de Gaulle. Angesichts eines Haushaltsdefizits von mehr als sechs Prozent beschrieb Barnier die Lage als „ernst“. Um das Defizit bis 2025 auf fünf Prozent und bis 2029 auf den europäischen Referenzwert von drei Prozent zu senken, kündigte er Haushaltskürzungen und Steuererhöhungen für die wohlhabendsten Franzosen und Großunternehmen an. Zwei Drittel der Haushaltssanierung sollen durch Einsparungen erreicht werden. Die französischen Haushaltsausgaben seien im europäischen Vergleich schlichtweg zu hoch, so Barnier.

Im Gegensatz zu seinen Vorgängern vermied Barnier scharfe Töne gegenüber der Opposition. Dies liegt auch daran, dass er einer Minderheitsregierung vorsteht, die auf die Duldung der Opposition angewiesen ist. Da Sozialisten, Grüne, Kommunisten und die Linkspartei LFI die Regierung ablehnen, ist Barnier auf die Zustimmung der Abgeordneten des Rassemblement National (RN) angewiesen. Dessen Fraktionsvorsitzende Marine Le Pen lobte in einer ersten Reaktion Barniers Bereitschaft, alle Fraktionen zu respektieren. Dies sei eine „seltene“ Qualität.

Le Pen forderte jedoch gleichzeitig „mehr Lösungen“ von der neuen Regierung. Barniers Rede habe ihr zu wenig konkrete Handlungsanweisungen enthalten. „Was werden Sie wirklich angesichts der Explosion der illegalen Einwanderung ausrichten?“, fragte Le Pen. Sie zeigte sich besorgt darüber, dass Barnier in dieser Frage auf die EU setze, deren Ziel es sei, mehr Einwanderer nach Europa zu holen. Le Pen forderte ein neues Einwanderungsgesetz sowie die Einführung des Verhältniswahlrechts. Barnier hatte zuvor seine Bereitschaft erklärt, über eine Wahlrechtsänderung „mit allen politischen Kräften“ zu diskutieren. Die 56-jährige Rechtspopulistin will sich in den kommenden zwei Monaten auf ihren Strafprozess wegen illegaler Parteienfinanzierung konzentrieren und hat daher kein Interesse an einem schnellen Sturz der Regierung.

Ungewöhnlich war, dass Barnier auf die Vertrauensfrage verzichtete, die traditionell am Ende einer Regierungserklärung gestellt wird. Grund dafür war die Drohung der vier linken Parteien, ihm das Misstrauen auszusprechen. Offenbar wollte Barnier nicht den Eindruck erwecken, mit den Stimmen der Rechtspopulisten zu regieren. Der Vorsitzende der Sozialistischen Partei, Olivier Faure, kündigte bereits eine Misstrauensabstimmung für die kommende Woche an. Ebenfalls ungewöhnlich: Barnier hatte den Text seiner Regierungserklärung nicht vorab dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron zur Billigung vorgelegt. Offenbar lässt sich Barnier, den Macron im September aus dem politischen Ruhestand geholt hatte, nicht in alles hineinreden.

Quelle: F.A.Z. - Artikel von Michaela Wiegel: https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/barniers-regierungserklaerung-im-zeichen-der-einwanderungsdebatte-110021109.html

Weitere
Artikel