18.10.2024
Verlust in der Spätmoderne: Eine Gesellschaft im Wandel

Andreas Reckwitz' Buch „Verluste“: Eine Gesellschaft im Zeichen des Verlusts

Der Soziologe Andreas Reckwitz, bekannt für seine einflussreiche Analyse der „Gesellschaft der Singularitäten“, widmet sich in seinem neuen Buch „Verlust“ einem Thema, das zunehmend die westlichen Gegenwartsgesellschaften prägt. Reckwitz, Professor für Allgemeine Soziologie und Kultursoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin, argumentiert, dass Verlusterfahrungen und Verlustängste in der Spätmoderne eine neue Dimension erreicht haben und zu einer zentralen Herausforderung für die Zukunft westlicher Gesellschaften geworden sind.

Die Verlustparadoxie der Moderne

Reckwitz' Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass die westliche Moderne seit jeher von einer „Verlustparadoxie“ geprägt ist. Einerseits verspricht und ermöglicht der Fortschritt die Reduktion von Verlusterfahrungen, beispielsweise durch medizinischen Fortschritt, soziale Sicherungssysteme oder technologische Innovationen. Andererseits erzeugt der Fortschritt selbst neue Verlustdynamiken, sei es durch Umweltzerstörung, den Wandel von Arbeitswelten oder den Verlust traditioneller Lebensformen.

In der Spätmoderne, so Reckwitz, verschärft sich diese Paradoxie. Das Fortschrittsnarrativ verliert an Glaubwürdigkeit, die Verluste der Vergangenheit und die Risiken der Zukunft werden deutlicher sichtbar. Die Klimakrise, der Aufstieg des Populismus, die Finanzkrise oder die Corona-Pandemie – all diese Entwicklungen nähren das Gefühl, dass die Zukunft weniger berechenbar und kontrollierbar ist als noch vor wenigen Jahrzehnten.

Die Bewältigung von Verlust in der Spätmoderne

Reckwitz analysiert in seinem Buch detailliert die verschiedenen Strategien, mit denen Individuen und Gesellschaften versuchen, mit Verlusten umzugehen. Er unterscheidet dabei zwischen „doing loss“ und „undoing loss“. „Doing loss“ bezeichnet die aktive Auseinandersetzung mit Verlust, beispielsweise durch Trauerarbeit, politische Mobilisierung oder künstlerische Verarbeitung. „Undoing loss“ hingegen zielt darauf ab, Verluste unsichtbar zu machen oder zu kompensieren, etwa durch Versicherungen, Konsum oder die Verdrängung unangenehmer Erinnerungen.

Besonders interessant ist Reckwitz' Beobachtung, dass in der Spätmoderne sowohl „doing loss“ als auch „undoing loss“ an Bedeutung gewinnen. Einerseits wächst die Sensibilität für Verlusterfahrungen, wie die zunehmende Popularität von Therapien oder die wachsende Bedeutung von Erinnerungskultur zeigen. Andererseits werden Strategien der Kompensation und Verdrängung immer ausgefeilter, wie die rasante Entwicklung von Konsumwelten oder die zunehmende Individualisierung von Lebensentwürfen verdeutlichen.

Die Zukunft im Zeichen des Verlusts?

Reckwitz' Buch ist eine ambitionierte und zugleich verstörende Analyse der Verlusterfahrungen in der Spätmoderne. Er zeigt auf, dass Verluste nicht nur ein individuelles, sondern auch ein gesellschaftliches Problem darstellen, das die westlichen Gesellschaften vor neue Herausforderungen stellt. Ob und wie es gelingt, die „Verlustparadoxie“ der Moderne aufzulösen und eine Zukunft zu gestalten, die nicht von Verlustängsten geprägt ist, lässt Reckwitz offen. Sein Buch ist jedoch ein wichtiger Denkanstoß, der dazu anregt, sich mit den Schattenseiten des Fortschritts und den Herausforderungen der Gegenwart auseinanderzusetzen.

Quellen

  • Lieder, Marianna: „Die Zukunft verliert ihre Anziehungskraft“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.10.2024. Online verfügbar unter: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/andreas-reckwitz-buch-verluste-110033788.html
  • Suhrkamp Verlag: „Andreas Reckwitz: Verlust“. Online verfügbar unter: https://www.suhrkamp.de/buch/andreas-reckwitz-verlust-t-9783518588222
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