18.10.2024
Zwischen Triumph und Trauma Die Last der Vergangenheit in Deutschland und Europa

Ob Selenskyj gut beraten war, den Vorschlägen zur Vertreibung der russischen Invasoren aus seinem Land den Namen „Siegesplan“ zu geben? Jedenfalls unser Kanzler, immerhin zweitgrößter Unterstützer der Ukraine, mag ja schon allein das Wort „Sieg“ nicht. In den seltenen Fällen, in denen Scholz zu ihm greift, geht es eigentlich immer nur um einen Sieg, der verhindert werden müsse. Zum Glück fügt er dann aber an, dass er damit den russischen meint. „Siegesplan“ haben wir aus dem Munde des Kanzlers, der doch für alles einen Plan haben will, aber noch nie vernommen. Na ja, Siegesplan klingt fast wie Schlieffenplan, und wir alle wissen noch, wie der ausging.

Wer tauft seinen Sohn noch Siegfried?

Die Abneigung gegenüber dem Sieg und dem Sieger ist freilich nicht nur beim Kanzler zu beobachten. Kennen Sie jemanden, der seinen Sohn Siegfried getauft hat? Sogar die Siegerurkunden bei den Bundesjugendspielen sind in Verruf geraten, als würde in den Sportstadien und -palästen immer noch „Sieg Heil“ gebrüllt und der Endsieg beschworen. Ja, an unserer Vergangenheit haben wir immer noch sehr zu kauen, wie es auch fast jede unserer politischen Debatten zeigt. Fragen Sie nur mal Ihren Zahnarzt, wie oft der inzwischen Knirscherschienen verordnen muss, und das nicht nur, wenn Angehörige der Ampelkoalition zu ihm kommen.

Die Gespenster unserer Geschichte sitzen aber auch anderen Nationen noch im Nacken. Als Bundeswehrsoldaten nach Polen verlegt wurden, musste die Regierung Tusk die Bevölkerung mit dem Hinweis beruhigen, die kämen nur, um bei der Bewältigung des Hochwassers zu helfen. Britischen Kindern, die zum Schüleraustausch nach Deutschland mussten, wurde noch Jahrzehnte nach dem Krieg eingeschärft: „Don’t mention the war!“ Auf die unschuldige Frage „Not even the dambusters?“ antworteten um die Versöhnung besorgte Eltern: „Especially not the dambusters!“ Denn die Flieger, die mit ihren übers Wasser hüpfenden Bomben die Eder- und die Möhnetalsperre zerstörten, gelten nur auf der Insel als Helden.

Als wäre die Wehrmacht doch noch in Dover gelandet

Englische Fußballfans sind da bis heute weniger zimperlich, wie ihr Lieblingslied „Ten German Bombers“ zeigt, das keine Gerd-Müller-Hymne ist. Auch für manche Boulevardblätter befindet Britannien sich immer noch im Krieg gegen Deutschland. Die Berichte über die Berufung Thomas Tuchels zum englischen Nationaltrainer lasen sich stellenweise, als sei die Wehrmacht doch noch in Dover gelandet und unter der Führung von Generalfeldmarschall Tuckel (den Engländern bereitet das ch ähnlich große Schwierigkeiten wie das th uns Deutschen) schon am ersten Invasionstag bis nach Wembley vorgedrungen.

Das ist natürlich eine glatte Übertreibung, zu der die Briten sonst eigentlich nicht neigen. Einigen Patrioten im Mutterland des Fußballs erscheint die Auslieferung der Nationalmannschaft an Tuchel jedoch wie eine Kapitulation vor den Deutschen, die man doch 1945 und 1966 besiegt hatte, wenn auch nur mit Hilfe der Amerikaner beziehungsweise eines Linienrichters aus der Sowjetunion.

Das Siegesgeheul wurde leiser

Danach besangen die Engländer jedenfalls die Bilanz ihrer Triumphe über uns gerne mit „Two World Wars and one World Cup, duda, duda“. Doch das Siegesgeheul wurde in dem Maße leiser, in dem wir weitere Weltmeister- und Europameistertitel gewannen, die Engländer aber rein gar nichts. Auch die Chancen der Briten, wenigstens aus dem Dritten Weltkrieg wieder als Siegermacht hervorzugehen, stehen nicht besonders gut.

Quelle: F.A.Z.

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