19.10.2024
Zehn Jahre nach dem Genozid: Das ungeklärte Schicksal der jesidischen Kinder

Irak: Rund 1300 jesidische Kinder werden zehn Jahre nach dem Genozid immer noch vermisst

Erbil/Berlin - Zehn Jahre nach dem Genozid an den Jesid*innen im Nordirak ist das Schicksal von rund 1.300 damals verschleppten Kindern immer noch ungeklärt. Tausende weitere Mädchen und Jungen sind bis heute obdachlos, leben in Flüchtlingslagern und sehen sich einer ungewissen Zukunft gegenüber. Die Auswirkungen des brutalen Angriffs der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) auf die jesidische Gemeinschaft am 3. August 2014 sind noch immer spürbar.

Der Genozid und seine Folgen

Am 3. August 2014 überfielen Kämpfer des IS die Sindschar-Region im Nordirak, dem Hauptsiedlungsgebiet der Jesid*innen. Tausende Mitglieder der religiösen Minderheit wurden getötet oder verschleppt. Frauen und Mädchen wurden versklavt, Jungen zu Kindersoldaten gemacht. Die Terrormiliz besetzte auf ihrem Höhepunkt etwa ein Drittel Syriens und 40 Prozent des Irak.

Rund 2.600 Jesid*innen gelten laut Amnesty International noch immer als vermisst, darunter schätzungsweise 1.300 Kinder. Viele Überlebende befinden sich in Flüchtlingslagern in der autonomen Region Kurdistan im Nordirak. Die humanitäre Lage dort bleibt prekär. Von der einst blühenden jesidischen Gemeinschaft sind nur noch Fragmente übrig.

Aktuelle Situation und Herausforderungen

Das akute Morden hat zwar aufgehört, doch die Lage in der Sindschar-Region bleibt unsicher. Bewaffnete Gruppen und die damit verbundene Gewalt stellen weiterhin ein erhebliches Sicherheitsrisiko dar. Viele Jesid*innen wagen es nicht, in ihre Heimat zurückzukehren. Die Infrastruktur ist zerstört, Schulen und Krankenhäuser sind Mangelware.

Hinzu kommt die Angst vor neuen Gewaltausbrüchen. „Insbesondere Frauen fürchten sich immer noch vor Entführungen und Vergewaltigungen“, berichtet die Hilfsorganisation Care. Diese Unsicherheit hat viele Jesid*innen dazu bewogen, das Land zu verlassen. Mit schätzungsweise mehr als 200.000 Jesid*innen lebt die größte Exil-Gemeinschaft in Deutschland. Etwa die Hälfte von ihnen wanderte nach den Verbrechen im August 2014 in die Bundesrepublik ein.

Verbleib der vermissten Kinder

Viele der vermissten Kinder befinden sich vermutlich in Gefängnissen und Lagern im Nordosten Syriens, die eigentlich für Menschen mit Verbindungen zum IS geschaffen wurden. Khidher Domle, ein irakischer Journalist und selbst Jeside, berichtet von zahlreichen jesidischen Frauen im Lager Al-Hol, die es nicht wagen, ihre Identität preiszugeben. Sie fürchten, nach den vielen Jahren beim IS nicht mehr von ihren Familien akzeptiert zu werden oder von ihren Kindern getrennt zu werden, die nach Vergewaltigungen geboren wurden.

„Die meisten von uns haben das Gefühl, dass der Völkermord weitergeht, denn es gibt immer noch so viele, die in Gefangenschaft sind oder verschwunden“, sagt Domle. Er betont, dass das Vertrauen in die irakischen Institutionen und die muslimische Mehrheitsgesellschaft stark beschädigt ist. „Muslimische Nachbarn, die mit dem IS sympathisierten, wandten sich gegen uns, verrieten die jesidischen Bewohner an die Kämpfer oder griffen selbst zu den Waffen.“

Internationale Bemühungen und Forderungen

Zehn Jahre nach dem Genozid bleibt die internationale Gemeinschaft gefordert. Amnesty International fordert die Autonomiebehörden und den Irak auf, sicherzustellen, dass zivilgesellschaftliche Organisationen Zugang zu den Hafteinrichtungen und Lagern erhalten. DNA-Tests könnten dabei helfen, vermisste Jesid*innen zu identifizieren und ihnen zu helfen, zu ihren Familien zurückzukehren.

Die irakischen Behörden stehen in der Pflicht, mehr Unterstützung für die Zurückkehrenden bereitzustellen, einschließlich Entschädigungen gemäß des Gesetzes für jesidische Überlebende. Auch die internationale Gemeinschaft darf die Überlebenden nicht vergessen und muss sie bei der Suche nach Vermissten aktiv unterstützen.

Langfristige Perspektiven

Viele Jesid*innen versuchen, sich eine neue Existenz in der Nähe der Flüchtlingslager aufzubauen. Die „Springs of Hope Foundation“, eine von der Amerikanerin Lisa Miara gegründete Hilfsorganisation, bietet Programme für Geflüchtete an. Doch die Zukunft bleibt ungewiss. Die irakische Regierung hat angekündigt, die Unterstützung für Lager in kurdischen Gebieten einzustellen, was die ohnehin prekäre Situation weiter verschärfen könnte.

„Niemand möchte für immer in Zelten leben“, sagt Miara. Doch die Lager auf Zwang zu schließen, wenn die eigentliche Heimat nicht sicher ist, sei keine Lösung. Die Überlebenden dürften auch zehn Jahre nach dem Völkermord nicht in Vergessenheit geraten.

Forderungen nach einem Abschiebestopp

In Deutschland wird ein bundesweiter Abschiebestopp für Jesid*innen gefordert. Die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Frank Schwabe (SPD), betont, dass viele Jesid*innen weiterhin extremistischen Gruppen ausgeliefert seien. „Von vielen weiß man, dass sie in Gefangenenlagern in Syrien sind, wo auch ehemalige IS-Kämpfer festgehalten werden“, sagte Schwabe der „Rheinischen Post“.

Die Lage in der Sindschar-Region sei weiterhin nicht sicher. Es gebe zwar jesidische Dörfer im Nordirak, wo sie ihre Religion ausüben könnten, doch viele Orte im Sindschar-Gebirge seien noch immer unsicher. Dort lebten weiterhin IS-Angehörige, die vor zehn Jahren am Völkermord beteiligt waren.

Schlussfolgerung

Der Genozid an den Jesid*innen im Nordirak hat tiefe Wunden hinterlassen, die auch ein Jahrzehnt später nicht verheilt sind. Tausende Menschen werden vermisst, und die Überlebenden kämpfen mit den physischen und psychischen Folgen der Gewalt. Die internationale Gemeinschaft darf nicht nachlassen in ihren Bemühungen, den Jesid*innen Gerechtigkeit und eine sichere Zukunft zu ermöglichen. Die Schicksale der vermissten Kinder und die schwierigen Lebensbedingungen der Überlebenden erinnern uns daran, dass der Kampf gegen Extremismus und für Menschenrechte niemals enden darf.

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